Graubünden - Baukultur

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Karolingischer Kirchenbau
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Klosterkirche*

Kloster St. Johann | 7537 Müstair
Teil des Benediktinerinnenkloster St. Johannes Baptist (UNESCO-Welterbe).

Grösste Dreiapsidenkirche im «churrätischen Schema», ein Bautyp, der in Graubünden vielerorts durch Grabungen nachgewiesen ist, von dem aber ausser in Mistail nur hier aufgehendes Mauerwerk aus der Zeit vor der Jahrtausendwende Zeugnis gibt.

Erbaut kurz nach 775 (Dendrodatum). Neuweihe nach Brandbeschädigung laut Inschrift in der Mittelapsis 1087. Ausbau zur dreischiffigen spätgotischen Hallenkirche 1492; Brandschaden des Daches während des Schwabenkrieges 1499, neu geweiht 1502. Neubau der Heiligblutkapelle 1758 (heute Gnadenkapelle); Ausbruch von barocken Seitenfenstern in den Apsiden wohl 1744, heute zugemauert; spätgotische Lanzettfenster in der Süd- und Westwand 1878–79 verändert. Restauriert und Abdeckung der karolingischen und romanischen Fresken 1947–52 unter Leitung von Linus Birchler und Walther Sulser.

Aussenbau.
Gestelzte halbrunde Mittelapsis flankiert von zwei leicht zurücktretenden hufeisenförmigen Seitenapsiden; darüber, im ursprünglich flacher geneigten Giebel der Ostwand drei rundbogige Blenden. Eine vierte, sehr niedrige Apsis gehörte einem nördlichen, die ganze Länge des Schiffs einnehmenden, heute unterteilten Annexraum an, dem an der Südseite ein identischer, durch Grabung nachgewiesener Raum mit Apsis entsprach (heute Gnadenkapelle). Diese Annexräume, von welchen je ein rundbogiger Durchgang ins Kircheninnere führte, hatten liturgische, im Einzelnen aber noch nicht abgeklärte Funktion.

Der ganze Aussenbau ist durch sehr flache, rundbogig geschlossene Blenden gegliedert, die an den Schiffswänden wegen der ehemaligen seitenschiffähnlichen Anbauten erst auf einer gewissen Höhe ansetzen. Reste des ehemaligen Traufgesimses an den Apsiden und an der Nordseite erhalten. An der Südseite spätmittelalterlicher Glockenturm, die unteren drei Geschosse in sorgfältiger Quadertechnik mit offenen Gerüstlöchern nach 1528, das Glockengeschoss mit den grossen Schallöffnungen und dem flachen Satteldach um 1587–97. An der südlichen Kirchenwand und am Turm Grabtafeln von Äbtissinnen und eines Propstes Anfang 17. bis Anfang 19. Jahrhundert.

Inneres.
Den ursprünglich mit einer flachen Holzdecke gedeckten Saal teilen heute drei spätgotische Rundpfeilerpaare in eine dreischiffige, vierjochige Halle. Unterhalb des ehemaligen Ansatzes der Flachdecke wachsen aus Freistützen und Wanddiensten die Rippen zu einem Rautengewölbe im Mittelschiff und zu Sterngewölben in den Abseiten. Die Apsiden sind mit Halbkuppeln eingewölbt, deren Scheitel wenig unter demjenigen der spätgotischen Schiffsgewölbe liegt; die Gewände der ursprünglichen Apsidenfenster in situ aufgefunden und wieder geöffnet. Von den hochgelegenen Fensterpaaren im Schiff beide Fenster unter dem Gewölbe an der Nordwand sichtbar gemacht; in den Süd- und Westwänden spätgotische Fenster. Im Westjoch ruht eine als Nonnenchor dienende Empore über Sterngewölbe, mit durchbrochener Masswerkbrüstung in Steinguss von 1492.

Karolingische Wandmalerei*. Grösster erhaltener Freskenzyklus des frühen Mittelalters, wohl von einem Meister aus einer oberitalienischen Schule; Datierung ungesichert, aber wohl aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Die seit dem 10. Jahrhundert sukzessive überdeckte und erst 1947–51 freigelegte Bemalung überzieht teppichartig alle verfügbaren Flächen, selbst die Fensterleibungen und wohl auch die Mauerstücke zwischen den Apsiden. Grösstenteils reliefhaft aufgefasste szenische Darstellungen verkleiden die Wände wie eine plastisch gearbeitete Wandverkleidung, was dem damaligen Saalbau das Aussehen eines innen ausgekleideten, kostbaren Schreins gegeben hat.

Die Bildszenen sind an den Langhauswänden in ein durchgehendes ornamentales Rahmengerüst von liegenden Rechtecken (ursprünglich 82 Felder) eingebunden, an der Westwand und in den Apsiden auf Streifen komponiert. Die Malerei wurde aufgrund einer Vorzeichnung in roten Strichen al fresco angelegt, die Deckfarben, Modellierung und Lichter nachträglich in pastosen Kalkfarben al secco aufgetragen. Von den ursprünglich weit über 100 Szenen und grösseren Kompositionen hat sich etwa die Hälfte erhalten oder ist zumindest rekonstruierbar. Der Erhaltungszustand ist unterschiedlich, an der Nordwand verhältnismässig gut. Allerdings ist die oberste Malschicht fast überall abgerieben. Die in weisser Schrift gemalten Bildlegenden (tituli) sind bis auf Reste verschwunden. Vorherrschend sind die gedämpften, rötlich schimmernden Farbtöne, erweitert durch Ocker, Grün, Violett, Purpur und Blau. Die Farben, vor allem Zinnober und Bleiweiss, teilweise schwarz oxydiert.

Die Bilder sind sichere, spannungsreiche Kompositionen mit einfachen Architekturkulissen. Bemerkenswert ist das antikisierende Dekorationssystem, das aus zierlich ornamentierten, von Bändern umschlungenen Stäben, Perlschnüren und perspektivischem Kästchenmäander besteht. Das Bildprogramm ist ganz auf den königlichen Messias und auf die von ihm ins Leben gerufene römisch-apostolische Kirche ausgerichtet. Ein die ganze Kirche umziehender Bildstreifen mit ausgewählten Szenen aus der Geschichte des leiblichen Ahnherrn Jesu, König David, über dem jetzigen Gewölbe und von diesem wellenförmig angeschnitten wurde 1908–09 abgelöst und ins Schweizerische Landesmuseum übergeführt.

Der Davidszyklus begleitete prologartig den christologischen Zyklus an den beiden Seitenwänden des Saales. Die unterste Reihe der Seitenwände, die wahrscheinlich einst in zwölf Bildern vom zeugnishaften Sterben der Apostel kündete, leitet zur ekklesiologischen Thematik der Ostwand. Sie zeigt im obersten Teil mit Christi Himmelfahrt die Rückkehr Jesu in die dreifaltige Gottheit und den Beginn seiner kosmischen Herrschaft, darunter, in den drei hohen Nischen, das Weiterwirken der Erlösung in seinem mystischen Leib, der Kirche. An der Westwand eine dynamisch angeordnete Darstellung des Jüngsten Gerichts; die älteste bekannte monumentale Gestaltung dieses Themas, welches später in hoch- und spätmittelalterlicher Zeit eine ausserordentliche Verbreitung gefunden hat.

Die über den karolingischen liegenden spätromanischen Malereien* aus der Zeit um 1200 sind von vortrefflicher Qualität und ausgezeichnet erhalten (Reste der 1950 abgelösten romanischen Wandmalereien heute im Klostermuseum). Mit ihnen wurde die Thematik der älteren Malereien «modern» erneuert. Durch ihre langen, schlanken Figuren mit kleinen Köpfen und manierierter Gestik sowie die starken bunten Farben sind die spätromanischen Bilder gut von den blasseren und heute auf einen farblichen Dreiklang beschränkten karolingischen Fresken zu unterscheiden. Stilistisch ähnliche Malereien finden sich im benachbarten Mariaberg und in anderen hochmittelalterlichen Freskenzyklen des Südtirols.

Spätgotische Wandmalerei. Die gesamte Gewölbemalerei ist kurz nach dem spätgotischen Umbau von 1492 entstanden. In den Zwickeln Rankenwerk und Blüten, in der mittleren Gewölbekappe acht aufgemalte Herrschaftswappen mit lateinischen Inschriften, ein Wappen für Karl den Grossen (fundator et edificator primus). Oberhalb der Sakramentsnische findet sich eine Malschicht von 1597 mit vier Szenen zu der im Kloster beheimateten Legende der Bluthostie.

Ausstattung: plastische Hochaltargruppe, «eines der besten frühbarocken Bildwerke Graubündens» (Poeschel). Altar um 1630; neu zusammengestellt: im Schrein Rosenkranzübergabe an Ordensleute, umgeben von den Reliefs der Rosenkranzgeheimnisse (heute im Depot und Klostermuseum). An der Nordwand der Mittelapsis spätgotisches Sakramentshäuschen aus Rauwacke 1492 mit originalem Eisengitter.

An der schmalen Stirnwand zwischen Mittel- und Südapsis lebensgrosses Bildwerk des Klostergründers, Karls des Grossen* aus Stuck, wohl um 1165 (Heiligsprechung), unter einem spätgotischen Stein- und Stuckbaldachin von 1488; Hände, Reichsapfel und Szepter 1951 ergänzt.

An der Nordwand Stuckrelief der Taufe Christi* mit deutlichen Anklängen an karolingische Kunst, entstanden wohl im 10./11. Jahrhundert; wohl ehemaliges Altarretabel. Auf der Nonnenempore Chorgestühl von 1690. In der um 1758 neuerbauten Heiligblutkapelle (heute Gnadenkapelle) Rokoko-Altar von 1767 mit dem 1838 aus Sta. Maria hierher gebrachten Gnadenbild der Immakulata, wohl 1621.

Als Antependium karolingische Marmorplatte*. Zusammen mit den Reliefs in Chur und Schänis das schönste Beispiel karolingischer Flechtwerkplatten in der Schweiz. Die Platte ist Teil eines Bestandes von über 600 bisher geborgenen Marmorbruchstücken, die zur karolingischen Kirchenausstattung gehörten (teilweise ausgestellt im Klostermuseum); sie diente ehemals wohl als Schranke zur Unterteilung der karolingischen Klosterkirche, dreisträhniges Flechtwerk in quadratischer Aufteilung als Weinstock. Hinter dem Altar radial angelegter Akanthusstuck 1935 von Georg Malin. In den Fenstern Glasgemälde von August Wanner um 1935.

(Kunstführer durch die Schweiz, Hg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Band 2, Bern 2005)

Literatur
Das Benediktinerinnenkloster St. Johann in Müstair, Schweizerische Kunstführer GSK, Nr. 733/ 734, Bern 2003.